Das Spiel mit der Heim-EM

Schon heute gehört die Frauen Fussballnati der Schweiz zu den ältesten. Die arrivierten Teamstützen werden 2025 die Endrunde im eigenen Land dennoch nicht missen wollen. Das macht den dringend nötigen Umbruch schwierig.

Der Jubel war gross an diesem 4. April 2023 beim Schweizerischen Fussballverband. Da wurde bekannt, dass die Europameisterschaft der Frauen 2025 hierzulande stattfinden würde. Von einer «historischen Chance» war in vielen Artikeln zu lesen. Schliesslich ist die Frauen Fussballnati der Schweiz als Gastgeberin gesetzt und spielt dann ihre dritte Endrunde in Folge. Von der Heim-EM erhoffen sich viele einen Aufschwung des hiesigen Frauenfussballs. Ausschlaggebend dafür ist nicht zuletzt das Abschneiden der Nati. Sie muss dann zwingend in Bestform sein. Gleichzeitig steht sie vor einem grossen Umbruch.

Als die Schweiz an der letztjährigen Europameisterschaft in England beim ersten Gruppenspiel gegen Portugal einlief, lag der Altersschnitt bei 29,4 Jahren. Zurückgetreten sind seither einzig Sandy Maendly und Rahel Kiwic. Mit Lia Wälti (30), Ramona Bachmann (32), Ana-Maria Crnogorčević (32), Eseosa Aigbogun (30) und Goalie Gaëlle Thalmann (37) sind wichtige Säulen des Teams bereits heute in einem Alter, in dem viele Frauen aus der Nati abtreten, aus körperlichen oder beruflichen Gründen. Von den Genannten haben allerdings alle durchblicken lassen, dass sie nach der WM weitermachen wollen. Die Heim-EM will sich natürlich niemand entgehen lassen. Crnogorčević sagt: «Das wäre ein Highlight und für mich persönlich wichtig.» Für sie soll es – wie für einige ihrer Kolleginnen auch – der schöne Abschluss einer Ära werden.

Verpasste Verjüngung

Für Nationaltrainerin Inka Grings bedeuten die verlängerten Karrieren dieser Ausnahmekönnerinnen eine Herausforderung. Als die Nati im April ohne Bachmann und Wälti gegen Island verloren hatte, räumte die Deutsche ein: «Die Abhängigkeit von ihnen ist gross und verdammt gefährlich.» Sorgen, an der EM 2025 ein Team über dem Zenit aufstellen zu müssen, macht sie sich dennoch nicht. Sie selber lief bis 33 für die deutsche Elf auf und stellt klar: «Die erfahrenen Spielerinnen haben bei der Heim-EM ein fantastisches Alter. Das Alter ist für mich ohnehin kein Ausschlusskriterium. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass man gut bis über 30 fit sein kann.» Es sei ihr aber bewusst, dass bis zur EM noch viel passieren könne, Verletzungen oder persönliche Veränderungen könnten dazu führen, dass doch nicht alle Routinierten zur Verfügung stünden. 

Auch für Marion Daube, SFV-Direktorin für Frauenfussball, ist klar, dass man um die Erfahrenen nicht herumkommt: «Aushängeschilder wie Wälti, Bachmann oder Crnogorčević sind als Botschafterinnen sehr wertvoll für den Verband und den ganzen Event.» Deren Standing macht es für die Natitrainerin anspruchsvoll, einen vorsichtigen Umbruch aufzugleisen. Grings sagt: «Es gibt natürlich verdiente Spielerinnen, bei denen es schwieriger ist, sie auf die Bank zu setzen.» Sie sei aber überzeugt, dass mit offener Kommunikation zwar Unmut aufkomme, sie dann aber eher Verständnis ernte. Es solle auch bitte so bleiben, dass sich eine Spielerin «not amused» zeige, wenn sie nur Ersatz sei. Grings betont aber: «Aktuell sehe ich noch keinen Bedarf, das mit den Betroffenen zu besprechen.» Sie wolle nach der WM weiterschauen.

Für André Moita Saraiva kommt dies zu spät. Der Luzerner betreibt das Frauenfussballportal Abseits.ch und verfolgt Liga und Nationalteams genau. Er sagt: «Grings hat es verpasst, nach der letzten EM eine Verjüngung anzustreben und die nächste Generation besser zu integrieren.» Selbst in den diesjährigen Freundschaftsspielen setzte die Schweiz meist auf die Erfahrenen, die einzige Startelfdebütantin unter Inka Grings war Goalie Livia Peng (21, Levante), dazu durften Marion Rey (24, FCZ), Aurélie Csillag (20, Basel) und Iman Beney (16, YB) Einsatzminuten sammeln.

Solange die jetzigen Stars auch mit 30 oder mehr Jahren auf dem Buckel noch für die Schweiz auflaufen, werden nur sporadisch Plätze frei. Auf die Bank verbannt werden können diese sowieso nur, wenn guter und jüngerer Ersatz bereitsteht. Ana-Maria Crnogorčević sagt: «Wir hoffen schon lange auf eine neue Topspielerin, die 70, 80, 90 Tore schiesst für die Nati. Ramona, Lia und ich werden nicht 100 Jahre weiterspielen. Es müssen die Nächsten kommen, je mehr, umso besser.» Grings ist zuversichtlich: Es gebe bereits jetzt interessante Spielerinnen im Kader. Und es würden noch jüngere hinzukommen, die vielleicht noch etwas Zeit brauchten und sich zuerst in der Liga behaupten müssten. 

Die Resultate der U19-Nati deuten allerdings nicht darauf hin, dass eine Fülle an Talenten nachrückt, um die alte Garde abzulösen. In der EM-Qualifikation kürzlich belegte die Schweiz den letzten Platz. Gegen Tschechien, Serbien und Polen – allesamt nicht eben Giganten im Frauenfussball und gemäss SFV «Gegner von ähnlichem Format» – schaute insgesamt nur ein Punkt heraus. «Die U19 ist aktuell eine verlorene Stufe in der Schweiz», urteilt André Moita Saraiva. «Es fehlt den meisten Spielerinnen an Potenzial. Zudem verloren sie durch Corona ein wichtiges Entwicklungsjahr.»

Eher Grund für Optimismus bietet die U17-Auswahl. An der EM-Endrunde in Estland im Mai gelang nach einem Sieg über Deutschland der Einzug in den Halbfinal, wo es gegen die späteren Titelgewinnerinnen aus Frankreich eine 2:10-Klatsche absetzte. Ein Achtungserfolg. Moita Saraiva betitelt die U17-Nati gar als «neue goldene Generation». Die vielen guten Spielerinnen müssen nun unbedingt Einsätze auf möglichst hohem Niveau haben, um sich an die Intensität zu gewöhnen. Denn auch bei den Frauen gilt: Von der U17 bis nach ganz oben ist es ein sehr weiter Weg, den längst nicht alle schaffen.

Zu grosser Sprung

Die Heim-EM kommt für die meisten von ihnen ohnehin zu früh. Der Sprung von der U- in die A-Nati ist enorm, gerade weil es bei den Frauen die Stufe U21 nicht gibt. Nationen wie Deutschland, Frankreich oder Schweden haben deshalb eine U23 eingeführt. Für die gibt es zwar keine offiziellen Turniere, aber immerhin internationale Testspiele. Grings’ Vorgänger Nils Nielsen formierte eine Schweizer U23, es gab zwei Zusammenzüge, seither ruht das Projekt. Marion Daube sagt: «Hierzulande ist es nicht einfach, das umzusetzen. Wir wollen nicht etwas kreieren, das Kosten schafft und dann nicht funktioniert.»

So müsse es erst einmal genügend Spielerinnen für ein solches Team geben, bei denen man Entwicklungspotenzial sehe, obwohl sie den direkten Übertritt von der U19- in die A-Nati nicht schaffen. Auch sei es schwierig, zusätzliche Spieltermine zu finden. Daube sagt, man solle die U23 nicht als vollwertiges Team ansehen, sondern als eine Möglichkeit für Spielerinnen, sich in diesem Rahmen zu zeigen. Moita Saraiva sieht dies anders: «Den Schweizer Talenten in diesem Alter fehlt der internationale Rhythmus, den sie in einer U23 kennen lernen könnten.» Zudem würden die Talente so besser auf dem internationalen Radar bleiben. Das könne helfen, um eher von Scouts entdeckt zu werden und in einer stärkeren Liga das Rüstzeug für die Nati zu holen.

Pröbeln gegen Giganten

Neue Spielerinnen als Back-up oder gar Ersatz für die Arrivierten aufzubauen, wäre in nächster Zeit gut möglich, schliesslich muss die Schweiz als EM-Gastgeberin keine Qualifikation absolvieren. Neulinge könnten in Testspielen gut Natiluft schnuppern, mit Ernstkämpfen sind diese aber nicht zu vergleichen. Die einzigen für Grings’ Team nach der WM stehen im Rahmen der Nations League an, wo mit Spanien, Schweden und Italien sehr starke Gegner warten. Grings freut sich: «Ich finde es super, auf solche Hammerteams zu treffen. Einen besseren Lerneffekt könnte ich mir nicht wünschen.» Sie räumt ein, dass es für die Jungen eine grosse Herausforderung werde, da zu bestehen, das sei ein gewaltiger Sprung gegenüber dem Ligaalltag. Selbst wenn das Ergebnis ungünstig ausfallen sollte, seien diese Erfahrungen jedoch Gold wert.

Dass Grings in diesen Partien verdienten Spielerinnen mal eine Pause gönnt, darauf hofft auch André Moita Saraiva. «In der Vergangenheit haben die Coaches der Frauennati fast gar nicht rotiert. Das muss sich ändern – gerade im Hinblick auf die Heim-EM. Die Jüngeren brauchen unbedingt Spielpraxis.» Er denkt, dass wegen der älteren Fixstarterinnen durchaus einige aus der zweiten Reihe in ihrer Entwicklung gebremst wurden. Allerdings sind es grosse Fussstapfen, die eine Nachfolgerin ausfüllen müsste, zumal Bachmann und Co. als Stammspielerinnen in Topligen nach wie vor beste Argumente für eine Nomination liefern.

Konflikte mit den Routinierten sieht Grings in den kommenden zwei Jahren keine aufkommen. Das habe auch mit deren Einstellung zu tun: «Unsere erfahrenen Spielerinnen haben alle einen super Charakter, schauen auf die Jungen und helfen ihnen.» Sie würden sogar Druck aus der zweiten Reihe fordern. Das mache es für sie einfacher, das Team zu erweitern und einen allfälligen Cut einzuleiten. «Es ist allen, von Funktionärinnen bis zu den Spielerinnen, bewusst, dass wir uns nicht nur auf die A-Nati konzentrieren können, sondern für langfristigen Erfolg einen Unterbau brauchen, also gute jüngere Spielerinnen und eine kompetitive Liga.» 

Direktorin Marion Daube sowie Natitrainerin Inka Grings sind knapp ein halbes Jahr im Amt. Verständlich, dass sich die beiden Zeit nehmen wollen für genauere Analysen. Spätestens nach der WM sollten sie zu Taten schreiten, ihnen steht schliesslich eine Mammutaufgabe bevor. Die Endrundenqualifikationen der letzten Jahre haben massgeblich zum Aufschwung des hiesigen Frauenfussballs beigetragen, die Heim-EM und die Phase danach werden wegweisend sein, ob dieser Trend anhält. Die Basis für einen Exploit am Heimturnier steht angesichts des alternden Stamms des Teams auf wackligen Beinen. Ob die jüngsten Erfolge der Frauennati nicht nur einer Reihe Ausnahmekönnerinnen geschuldet, sondern Ergebnis einer nachhaltigen Arbeit waren, wird sich erst dann zeigen, wenn der nötige Umbruch vollzogen wurde. Das Spiel mit der Heim-EM, es wird zum Spiel mit der Zeit.

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