Koch ohne Plan
Leandro lebt in der WG-Guggisberg, ein Wohn- und Schulheim für Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen. Er will eine Lehre als Koch machen, inspiriert von Grossmutters Suppe.
„Wir könnten Ebli machen.“ „Was ist Ebli?“, fragt Leandro und legt seinen Kopf auf den Holztisch. Die Köchin ist bemüht an ihn heranzukommen, es geht um den Menu-Plan für Donnerstag. „Was ist dein Lieblingsessen?“, fragt sie. Leandro legt seinen Arm über den Kopf und sagt nichts.
Montagmorgen in der Wohngemeinschaft Guggisberg. Es herrscht wieder Betrieb mitten im bernischen 1500-Seelen-Dorf. Das Haus ist momentan für zehn Jugendliche der Mittelpunkt ihres Lebens. „Wer zu uns kommt, war davor meist schon in anderen Heimen, Psychiatrien oder in einer Strafanstalt untergebracht“, sagt Rolf Küng, der Heimleiter. Zusammen mit ausgebildeten Sozialpädagogen versucht er, junge Menschen von der schiefen Bahn auf den richtigen Weg zu bringen.
Nach dem Wochenende zu Hause kehren die Jugendlichen am Sonntagabend zurück nach Guggisberg. Von Montag bis Freitag steht Schule mit Unterricht in Mathematik, Deutsch und Allgemeinbildung auf dem Programm. Sport, handwerkliche Projektarbeiten und einmal wöchentlich Kochen vervollständigen den Wochenplan. Am kommenden Donnerstag sind Maxim und Leandro für das Menu zuständig. Die beiden konnten sich schon mal auf das Dessert einigen: Tiramisu. Maxim meinte, Leandro mag das.
[Best_Wordpress_Gallery id=»9″ gal_title=»WG-Guggisberg 1″]Grossmutters Suppe
Leandro, 16 Jahre alt, kommt aus Basel. Seit mehr als einem Jahr ist Leandro in der WG-Guggisberg. Die Haare auf der Seite ganz kurz. Oben so lang, dass er sie dauernd mit einer Hand aus seinem Gesicht streicht. Er ist klein und dünn, trägt einen schwarzen Kapuzenpulli mit einer Jack Daniels Flasche aufgedruckt. Er mag deutschen Rap, Capital Bra zum Beispiel. Als ich später den Namen falsch ausspreche, lacht er mich aus.
Um in der Wohngemeinschaft zu landen, braucht es einen Entscheid der zuständigen Behörde und eine gesicherte Finanzierung. „Wir rechnen mit einem pauschalen Tagesansatz pro Jugendlicher, der in jedem Fall einzeln gutgeheissen werden muss“, erklärt Heimleiter Küng. Es zahlt, wer den Entscheid für die Verlegung gefällt hat.
Um wieviel Geld es sich dabei handelt, will Küng nicht öffentlich machen. Spätestens bei Erreichen der Volljährigkeit endet die Zeit in Guggisberg wieder. Küng sagt: „Im Idealfall können sie früher gehen. Wenn die obligatorische Schulzeit vorbei ist, sie eine Lehrstelle haben und das soziale Umfeld geregelt ist.“ Alle vier Monate wird im Standortgespräch über die Zukunft des Jugendlichen diskutiert.
„Wie viel verdienst du?“ fragt mich Leandro in einem Nebenraum des Schulzimmers. Wir sind allein. Er ist interessiert, löchert mich mit Fragen, statt an seiner Bewerbung zu arbeiten. Er gibt aber auch Antworten. Erzählt, dass er Koch werden will und schon Schnuppertage absolviert hat. Nur die Menu-Planung findet er blöd, das brauche es doch nicht. Sein Lieblingsessen ist Pizza, und eine spezielle Bouillon mit Fleisch nach dem Rezept seiner Grossmutter.
[Best_Wordpress_Gallery id=»11″ gal_title=»WG-Guggisberg 2″]Nach der Arbeit an seiner Bewerbung steht Mathematik an. Leandro und die anderen haben ein Blatt mit Aufgaben vor sich auf dem Pult. Den Bleistift in der Hand, aber nur Flausen im Kopf. Die Stimmung ist unruhig, laut. Immer wieder Sprüche oder Provokationen: „Hei, kiffst du?“ „Ja, logisch“ oder „Scheiss Basel“ „Halt deine Fresse!“.
Im Minutentakt interveniert der Lehrer, sorgt für Momente der Ruhe. Er bleibt hinter Leandro stehen: „Hier zuerst die Klammer auflösen und dann Punkt vor Strich rechnen.“ Leandro lehnt sich in seinen Stuhl: „Poah, keine Ahnung, ey! Ich habe keinen Bock.“ Es geht noch 15 Minuten so weiter, dann ist 11 Uhr – Pause.
Protzige Art, weicher Kern
Leandro raucht draussen eine Zigarette und verschwindet dann bis zum Mittagessen in seinem Zimmer. Ein Pult und eine kleine Kommode stehen in einem grossen Raum. Das Bett ganz in der Ecke, gleich daneben ein Kleiderschrank. Der Junge sitzt auf dem Bettrand, schaut auf sein Handy und tippt darauf herum. „Gefällt es dir hier?“ „Geht so.“ Er wirkt verschlossen, vermeidet Blickkontakt. „Wo warst du denn vorher?“ „In Basel, im Heim.“ „Wer hat entschieden, dass du nach Guggisberg kommst?“ „Beistand.“ „Warum bist du damals im Heim gelandet?“ „Aggressionsprobleme“ „Wie haben sich diese gezeigt?“ „Ich bin einfach durchgedreht.“ „Geht es hier besser?“ „Ein wenig, ja. Aber für solche Sachen fragst du besser Vio.“
Er meint Violeta: klein gewachsen, grosse Augen, ansteckendes Lachen. Die Sozialpädagogin ist in der WG-Guggisberg für Leandro als Bezugsperson, als Betreuerin zuständig. Sie erzählt, dass Leandro einen weichen Kern hat, ein intelligenter Junge ist. Er suche hier immer noch seinen Platz in der Gruppe.
Alles begann als seine Eltern sich getrennt haben. Er blieb bei der Mutter. Die hatte immer wieder neue Partner, widmete ihrem Sohn wenig Aufmerksamkeit. Mit seiner protzigen Art versucht er viele Dinge zu überspielen. Violeta führt regelmässig Gespräche mit Leandro, er vertraut ihr, kommt mittlerweile auch von sich aus auf sie zu.
Pünktlich um 12 Uhr sitzen alle am Esstisch. Leandro ganz aussen am Tisch, danach alle anderen und ganz am anderen Ende ist ein Platz frei für die Köchin. Die Atmosphäre gleicht einem Zirkus: Diskussionen, Geschichten, protziges Getue, Mädchen-Kram – alles muss genau jetzt am Tisch besprochen werden. Nach einigen Minuten nimmt die Köchin Platz. Es wird ganz still. Alle schauen sich gegenseitig an.
[WPSM_INFOBOX id=1249]Nach einigen Augenblicken der Ruhe sagt die Köchin „E Guete“ und erhebt sich. Violetta erklärt später: „Das Essen wird erst serviert, wenn Ruhe herrscht am Tisch.“ Gleich danach geht der Zirkus weiter. Leandro beteiligt sich nicht. Er sucht nach Kürbisstücken in seinem Risotto und platziert sie auf dem Tellerrand.